Die Bundesregierung macht derzeit deutlich, dass sie nicht gewillt ist, die angesichts stark steigernder Kosten (Energie, Personal, Rohstoffe) bei nicht parallel steigenden Einnahmen zu erwartende Insolvenzwelle hinzunehmen. Im Gegenteil. Wie schon zu Zeiten der Pandemie scheint man gewillt, die Nutzung des Insolvenzrechts auszusetzen, um betroffenen Unternehmen ein „Aussitzen“ der Krise zu erlauben. Der Bäcker soll, frei nach dem Bundeswirtschaftsminister, eben vorübergehend mal keine Brötchen backen.
Die unberechtigte Polemik
Hinter dieser etwas ungeschickten Aussage steckt eine klare Strategie. Folgt man der Grundannahme, dass die Kostenexplosion – wie die Wirtschaftsbeschränkungen wegen der Pandemie – ein nur vorübergehendes Phänomen sind, kann es in der Tat ungerecht erscheinen, die in der Krisenzeit existenziell betroffenen Unternehmen zum Durchlaufen eines Insolvenzverfahrens zu zwingen. Passender wäre in der Tat ihr vorübergehendes kostenreduziertes „Einfrieren“ oder „Einmotten“ (treffender scheint der englische Begriff des „mothballing“).
Das Problem des deutschen Insolvenzrechts
Das deutsche Insolvenzrecht wird – gerade von Insolvenzverwaltern – gern als effektives und effizientes System zur Marktbereinigung und Markterneuerung beschrieben. Träfe dies zu, so scheint es nahezu widersinnig, auf die Anwendung dieses Systems gerade in einer Krise zu verzichten. Ist die Effizienz des Systems also nur seinen Insidern bekannt? Werden der Rest der Wirtschaft und die Politik vom Stigma der Insolvenz geblendet?
Die Antwort auf diese Fragen wird, wie ich schon im Editorial des Heft 14 der NZI 2022 ausgeführt habe, komplexer ausfallen müssen. Der InsO-Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, die Verwertungsentscheidung im deutschen Insolvenzverfahren allein Marktmechanismen zu unterwerfen. „Das Insolvenzverfahren soll die Marktgesetze nicht außer Kraft setzen oder durch hoheitliche Regelung überformen, sondern Marktprozesse stimulieren“ (BT-Drs. 12/2443, 75). Die optimale Verwertungsentscheidung soll als „einzelwirtschaftliche Investitionsentscheidung“ jedes Gläubigers im Verhandlungsprozess entdeckt und von den Beteiligten verwirklicht werden. Ein solches System beruht auf der Annahme, dass in jedem Insolvenzverfahren aktive Beteiligte den Verhandlungsprozess auf Basis umfassender Informationen initiieren und die zutreffende Entscheidung entdecken. Die Berechtigung dieser Grundannahme war für den nominell größten Anteil an Unternehmen im Markt stets zweifelhaft: Kleinunternehmen haben kaum die Erwartung, in einem Insolvenzverfahren im Verhandlungswege eine Sanierungslösung zu erreichen. Die rationale Passivität ihrer Gläubiger lässt dies kaum zu. Ein Vermeidungsverhalten zugunsten einer freien Sanierung und vor allem einer Insolvenzverschleppung ist rational.
Die berechtigte Erwartung einer Zerschlagungsentscheidung im deutschen Insolvenzsystem wird man in Zeiten außergewöhnlicher Marktverwerfungen aber auch bei größeren Unternehmen finden. Werden Umsatz- und Gewinnprognosen, ja sogar Gewinne an sich, durch Energiepreis- und Lohnsteigerungen sowie andere Kriegs- und Transformationsfolgen auf unabsehbare Zeit unmöglich, so sind auch die Verhandlungspartner des Krisenunternehmens (Banken, Lieferanten, Finanzgläubiger, Warenkreditversicherer etc.) nicht in der Lage, ihre Investitionsentscheidung wie vom Gesetzgeber angedacht rational zu treffen. Vorsicht mahnt zur Deinvestition. Wird vor diesem Hintergrund eine Lastenteilung in der Krise nicht schon außergerichtlich erreicht, muss beim nachfolgenden gerichtlichen Verfahren die Bereitschaft zur selbigen fast schon zwangsläufig fehlen. Das Insolvenzsystem erzeugt hier so einen Zerschlagungsautomatismus – und dies ist den Beteiligten in Politik und Wirtschaft intuitiv bewusst. Ein auf Marktmechanismen basiertes Insolvenzsystem versagt, wenn kein Vertrauen in die rationale Entscheidungsfindung des Marktes im Rahmen eines Insolvenzverfahrens besteht. Jedenfalls Unternehmen mit potenziell fortführungsfähigem Geschäftsmodell sollten es in solchen Zeiten meiden.
Keine Suspendierung der Antragspflichten, sondern vor allem eine Verfahrensflexibilisierung
Die Politik sollte dennoch nicht auf eine Nutzung des Insolvenzrechts verzichten. Es kann sogar dazu dienen, den Unternehmen, denen eine außerinsolvenzliche Stilllegung nicht mehr finanzierbar erscheint, Unterschlupf zu bieten und so zu „überwintern“. DIe Lösung liegt also nicht im Vermeiden des Systems, sondern in seiner Flexibilisierung.
Im Grundsatz sollte man die in der aktuellen Krise insolvenzreif werdenden Unternehmen in einem (vorläufigen) Insolvenzverfahren auffangen und stabilisieren, ohne dass es zugleich zur Auslösung der Fristen des § 30 InsO führt. Der Berichtstermin mit der Verwertungsentscheidung sollte vielmehr erst dann anberaumt werden, wenn die dafür erforderlichen Marktmechanismen aus Sicht der Beteiligten wieder Gewähr für die Richtigkeit dieser Entscheidung bieten, also etwa ein Käufer gefunden wird, oder aber der Schuldner dies beantragt, etwa um die Liquidation durchzuführen. Im Fall eines Eröffnungsantrags durch den Schuldner kann zudem ein Schutzschirmverfahren in Betracht kommen, das dann ebenfalls nicht der Dreimonatsfrist des § 270d InsO unterliegen sollte und so flexibel verlängert werden kann. Im Kern sollte die Verwertungsentscheidung auf die Rückkehr der Normalität warten können, solange der Schuldner fortführungsbereit bleibt.
Die Finanzierung einer Betriebsfortführung auf Sparflamme oder auch einer vorübergehenden Stilllegung wäre über Insolvenz- und Kurzarbeitergeld sowie über gezielte Kostenzuschüsse ähnlich den Coronahilfen zu sichern.
Für die große Zahl an Kleinunternehmen ohne Rücklagen für den kommenden Winter wäre zudem vorübergehend das Erfordernis der Massedeckung aus § 26 InsO zu suspendieren. Die Finanzierung der Verfahren wäre staatlich zu sichern.
Insgesamt kann das Insolvenzverfahren mit seinen Strukturen und Experten auf diese Weise aktiv eingebunden werden, um Unternehmen, denen geschäftlicher Erfolg und ein eigenständiges Überwintern in der Krise nicht möglich ist, ein überwachtes Überwintern zu erlauben. Fortführungslösungen, aber auch Betriebsaufgaben wären jederzeit umsetzbar. Als Anreiz zu Nutzung des Verfahrens könnte man den betroffenen Unternehmern eine Befreiung von unternehmensbezogenen Verbindlichkeiten bei Aufhebung des Verfahrens im Wege der Liquidation in Aussicht stellen.
Passen die Grundannahmen?
Die vorgeschlagene Lösung basiert auf zwei Grundannahmen.
Zum einen kann ein „Überwintern“ nur funktioniere und den Aufwand lohnen, wenn ein Frühling zu erwarten ist. Dass sich die Energiepreise wieder normalisieren und die Inflation sinkt, scheint aktuell zumindest noch die Auffassung von EZB und Bundesregierung. Erweist sich dies als Trugschluss, wäre es im vorgeschlagenen System immerhin jederzeit möglich, die auf Basis einer neuen stabilen Realität wieder planbare Verwertungsentscheidung herbeizuführen.
Zum anderen bedarf es den politischen Willens zur proaktiven Einbindung des Insolvenzrechts. Dies wird notwendigerweise zum Steigen der Insolvenzzahlen führen. Maßstab politischen Erfolgs sollte aber eben auch nicht die Verneidung von Insolvenzverfahren und damit die aktive und transparente Gestaltung eines Transfrmationsprozesses sein, sondern die Vermeidung langfristiger Arbeitslosigkeit und sozialer Verwerfungen. Stille Betriebsschließungen helfen den Arbeitnehmern in dieser Hinsicht weit weniger als staatlich unterstütze Insolvenzlösungen.
Mehr Präzision bitte [Nachtrag 11.9.2022]
Die proaktive Einbindung des Insolvenzrechts setzt voraus, dass eine Differenzierung in den öffentlichen Diskurs eingeführt wird. Begriffe wie „Insolvenzwelle“ oder „Insolvenzflut“, ja „Insolvenz-Tsunami“, knüpfen an die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren an und verbinden damit ohne jede Differenzierung eine negative Folgenerwartung im Sinne des „Verschwindens“ von Betrieben, also der Stilllegung von Unternehmen und der Zerstörung von Strukturen. In der Flut träfe dies Unternehmen unterschiedslos – gescheiterte wie fortführungswürdige.
Diese Folgenerwartung basiert nicht bloß auf dem „Stigma“ der Insolvenz, das gerade in Ostdeutschland durch die Konkurserfahrungen in den frühen 1990iger Jahren tief verwurzelt ist. Sie hat gerade in einer Zeit der Marktverwerfungen – wie soeben aufgezeigt – auch für das aktuelle Insolvenzrecht ihre Berechtigung und muss durch die Flexibilisierung des Insolvenzverfahrens addressiert werden. Ein so entwickeltes Insolvenzrecht darf dann als „Insolvenzschutz“ vor Marktverwerfungen verstanden werden und sollte auch im öffentlichen Diskurs als „Insolvenzschutz“ beschrieben und verstanden werden. Eine hohe Zahl schutzsuchender Unternehmen ist dann ein Indikator der Schwere der Marktbelastung, nicht aber des Politikversagens. Politikversagen beginnt erst dort, wo Unternehmen unterschiedslos gefördert oder eben vernichtet werden. Die richtige Frage an die Politik ist also die nach einer „Zerschlagungswelle“ oder einer „Zerschlagungsflut“. Eine „Insolvenzschutzwelle“ wäre demgegenüber zu erhoffen, würde diese es doch als Nebeneffekt erlauben, staatliche Hilfen auf Unternehmen in existenziellen Schwierigkeiten – auf Unternehmen unter Insolvenzschutz – zu begrenzen. Zugleich hätten diese Unternehmen die Chance, sich mit Expertenhilfe in der Insolvenz ganzheitlich zu sanieren und an die neue Marktsituation normalisierter Märkte und neuer Lieferketten/Preisniveaus anzupassen.